Benjamin Hoven: Erzähl uns etwas über dich. Wer du bist und was du so machst.
Tetyana Lutsyk: Tetyana Lutsyk ist mein Name, ich bin Pastoralreferentin im Bistum Aachen und seit elf Jahren im Bistumsdienst und seit einem Jahr bin ich als Flüchtlingsseelsorgerin für ukrainische Geflüchtete beauftragt.
Benjamin Hoven: Wie war die erste Zeit als der Krieg ausgebrochen ist für dich? Wie würdest du das beschreiben?
Tetyana Lutsyk: Das war der, würde ich mal behaupten, der aller schlimmste Tag bisher in meinem Leben. Als ich von dem Krieg erfahren habe. Alleine das durch die Bilder mitzubekommen, alleine wenn man so von einer Karnevalsfeier mit den Kindern von der Kita zurückkommt und auf einmal mitbekommt: das ist alles hautnah, das ist alles real. All diese Befürchtungen haben sich tatsächlich bewahrheitet. Ich fand es sehr schlimm, den ersten Tag.
Benjamin Hoven: Wie ist deine persönliche Verbindung zur Ukraine? Wie würdest du die so beschreiben?
Tetyana Lutsyk: Ich habe meinen Vater noch dort leben, ich habe meine drei Geschwister noch dort leben. Auch in unterschiedlichen Regionen. Allerdings liegen die Regionen in einem relativ sicheren Gebiet, sodass sie sich auch sicher fühlen dort. Man kann allerdings nicht davon ausgehen, dass es immer so ist.
Benjamin Hoven: Man wusste ja damals auch noch nicht, wie sich der Krieg so entwickeln würde. Das war gar nicht klar...
Angela Mierzwa: Und wie ist deine persönliche Verbindung. Du hattest gesagt, deine Familie lebt noch in der Ukraine. Wie sieht es bei dir aus, hast du auch in der Ukraine gewohnt?
Tetyana Lutsyk: Genau, ich habe dort 20 Jahre meines Lebens verbracht. Meine Schule abgeschlossen. Ich verbinde mit der Ukraine meine erste Heimat. Da fühle ich mich wohl. Da verstehe ich die Sprache. Da kennen mich die Leute. Das ist ein anderes Gefühl, das ist ein Gefühl von zu Hause sein. Und dieses Gefühl an dem ersten Tag oder in den ersten Tagen so mitzubekommen, mein zu Hause, meine Heimat wird angegriffen, da passiert gerade etwas Schlimmes, etwas Leidvolles. Ja; das hat mich schon sehr betroffen.
Angela Mierzwa: Bist du denn noch oft in der Ukraine? Fliegst du normalerweise zu Besuch?
Tetyana Lutsyk: Ich war nur sehr knapp einmal an der Grenze zur Ukraine als wir ein Kind abgeholt haben mit den Großeltern von Freunden und ich war neulich, als meine Mutter leider bei einem Unfall ums Leben kam. Da war ich auch noch einmal in der Ukraine. Es war sehr bedrückend und ich merkte sofort, dass ich mich in einem Kriegsland befinde. Das merkte man an den Sirenen. Aber auch an der Präsenz von Soldaten, von bewaffneten Menschen, die nur eine geringe Menge an Menschen durch die Stadt fahren ließen. Es gab auch keine Straßenbeleuchtung. Das Navi funktioniert nicht, da verfährt man sich. Da merkt man schon, dass Land hat sich total verändert. Und das macht natürlich auch etwas mit Menschen.
Angela Mierzwa: Das heißt du warst jetzt quasi während des Krieges an der Ukraine und in der Ukraine und zuvor? Warst du da auch regelmäßig in deinem alten zu Hause?
Tetyana Lutsyk: Leider nicht so oft aufgrund von Corona und aufgrund der Kriegsereignisse, konnte ich nicht so oft fahren. Das heißt das letzte Mal war ich dort vor vier Jahren. Mittlerweile fünf Jahren. Und wenn dann jemand von der Familie geht, ist das sehr bitter.
Angela Mierzwa: Wann hattest du denn den ersten Kontakt zu ukrainischen Geflüchteten hier?
Tetyana Lutsyk: Das war so ziemlich glaub ich schnell. Eine Woche nach den Ereignissen. Oder eigentlich innerhalb der ersten Tage. Das war klar, dass die Menschen kommen werden. Einige haben wir auch abgeholt privat mit PKWs. Einige sind auch einfach nach hier gekommen. Sind hier in Aachen angekommen oder in den Umgebenden Städten. Das schon zu merken, auch wie groß die Hilflosigkeit, die Ohnmacht der Menschen war, wie verunsichert wir uns alle gefühlt haben auch durch diese Geflüchteten auch noch mitbekommen haben, wie schrecklich es dort gewesen sein muss. Und dass die Menschen natürlich gehegt haben, dass sie nach einer Woche vielleicht wieder zurückkehren werden. Und jetzt ist mehr als ein Jahr vergangen und der Krieg ist noch nicht zu Ende.
Benjamin Hoven: Wie gestaltet sich deine Arbeit mit den Geflüchteten? Was machst du mit denen?
Tetyana Lutsyk: Also es gibt unterschiedliche Möglichkeiten wie wir mit geflüchteten Frauen, Männern, Kindern, Familien und älteren Menschen arbeiten. Wir bieten Ihnen einfach so Treffs an. Wo wir uns einfach in einer ungezwungenen Atmosphäre und begegnen können und so ein bisschen vom Leben erzählen können, von den Herausforderungen des Lebens. Aber auch von Ihren Erfahrungen. Wie sie sich hier in Deutschland fühlen. Was sie brauchen und so weiter. Und wir haben auch im Zuge dessen eine Informationsplattform mit dem Bistum Aachen entwickelt. Da geht es um Hilfsangebote für alle Geflüchteten. Das ist eine gute Plattform, um mitzubekommen was es alles gibt. Wo kriegt man welche Hilfestellungen und so weiter. Darüber hinaus merke ich wie wichtig einfach die Gespräche sind. Manchmal schweigen wir und halten die Leere und den Schmerz mit den Menschen aus. Manchmal bieten wir auch so auch freiere Gottesdienste oder auch Gebetszeiten oder auch Anlässe an. Wo wir wissen, diesen Raum dürfen die Menschen selber füllen, mit ihren Gedanken, mit ihren Gebeten, mit ihren Gefühlen und sie dürfen sich dort die Kraft holen, die sie brauchen für den nächsten Schritt. Das finde ich unheimlich wichtig. Wir arbeiten auch viel mit Schulen zusammen. Wir sind auch sehr oft als Ansprechpartner für Geflüchtete Familien, wenn es um schulische Probleme geht, wenn es auch um behördliche Schwierigkeiten geht und wenn jemand die Orientierung verloren hat. Was ist so der nächste Schritt. Wir unterstützen auch die Familien dabei, dass sie auch so schnell wie möglich die Sprache erlernen können. Und wir unterstützen alleinstehende Frauen, auch wenn sie Kinderbetreuung brauchen. Also es geht in unterschiedliche Richtungen je nach Bedarf und je nach Zielgruppe. Wir haben neulich auch eine Jugendfahrt angeboten. Für 26 Jugendliche. Wir waren über das Wochenende mit denen weg. Und sie rennen uns die Bude ein und fragen wann ist die nächste Fahrt? Vielleicht im Sommer noch?
Das sind auch tolle Erfahrungen.
Angela Mierzwa: Was waren für dich die größten Herausforderungen bei der Arbeit mit Geflüchteten?
Tetyana Lutsyk: Die größten Herausforderungen waren natürlich auch so das Wissen drum, was für einem Leid sich die Menschen ausgesetzt gefühlt haben. Was sie denn alles mitbringen. Wie gehen wir behutsam mit denen um, ohne dass wir die Menschen direkt Kategorisieren. Das und die zweite Herausforderung das Ankommen in der sehr Bürokratisch strukturierten vielleicht auch überstrukturierten Gesellschaft. Wo die Menschen den Überblick verlieren. Die dritte Herausforderung war auch noch einmal zu merken, wie funktioniert die deutsche Gesellschaft und wo machen wir uns selber den Weg in dieser Gesellschaft sehr schwer. In Bezug auf Fachkräftemangel. In Bezug auf die Ressourcen die hier ankommen mit der guten Qualifikation. All diese gesellschaftlichen Verkrustungen durchzubrechen, dass finde ich fast schon unüberwindbar.
Angela Mierzwa: Es ist jetzt schon ein Jahr vergangen hattest du schon persönliche Erfolgsmomente? Situationen an die du dich gerne erinnerst?
Tetyana Lutsyk: Ja, wenn ich merke, dass die Menschen trotz ihrer schlimmen Erlebnisse und Erfahrungen die inneren Kräfte so aufbringen, dass sie sagen können: “Ich bin jetzt bereit für den nächsten Schritt und den tu ich auch. Ich lerne langsam die Sprache, ich mache mich vertraut mit der deutschen Gesellschaft, mit der Kultur und ich möchte das und das und das als mein Ziel erreichen.” Wenn die Menschen von sich überzeugt sind, wenn sie von ihren Stärken, Talenten und Gaben überzeugt sind. Dass sie nicht aufgeben trotz Allem. Das finde ich, dass sind so meine eigenen Erfolgsmomente. Wenn ich merke, dass die Menschen hier langsam Fuß fassen können. Wenn sie mir begegnen und sagen können: “Hey, ich habe jetzt eine Arbeitsstelle. Das ist für mich eine Chance und mal schauen, wie es weiter geht.”
Angela Mierzwa: Was für ein Gefühl, bei den Menschen, die du getroffen hast, die du betreut hast. Wie ist da so die Tendenz bei den positiven Ereignissen.
Tetyana Lutsyk: Ich glaube, dass ganz viele Menschen immer noch so das Gefühl haben: “Ich möchte in meine vertraute Heimat zurück. Ich weiß nicht, ob ich diesen langen Atem habe, hier alles durchzustehen, alles auf mich zu nehmen, mit all dem fertig zu werden. Ob es sich nicht vielleicht doch lohnen würde, wieder zurückzugehen.” Auch diese Gedanken haben die Menschen. Aber es gibt noch viel mehr Menschen, die sagen: “ Ich schaue mal, wie weit ich komme. Ich bleibe dran. Ich arbeite an mir. Ich möchte auch etwas erreichen.” Ich begegne teilweise Frauen, die schon ihr drittes Studium bereits beendet haben, die so gut qualifiziert, dass sie schon abgewiesen werden, weil sie qualifiziert sind. Das ist natürlich auch eine Erfahrung. Ich finde es auch sehr bemerkenswert, wie zielstrebig ukrainische Frauen sind. Und vor Allem aber auch, dass sie genug Kraft haben, um Verantwortung für ihre Kinder zu übernehmen. Wohlwissend, dass sie womöglich ihre Eltern, ihre Ehemänner in der Ukraine noch haben. In dieser gefährlichen und unsicheren Situation. Da habe ich Respekt vor.
Angela Mierzwa: Das sind ja viele positive Erfahrungen, die du gesammelt hast. Gibt es noch etwas, was du gerne erzählen möchtest von deinen Erlebnissen der letzten Monate?
Tetyana Lutsyk: Ich finde diese Arbeit mit Geflüchteten, die ist so vielschichtig, die ist so vielfältig, dass ich für mich noch einmal gedacht habe, eigentlich bräuchte man noch mehr Ressourcen für diese Arbeit, weil auch die Bedarfe sich ständig verändern. Wo die Frauen stehen, wofür sie sich interessieren, wofür sie brennen. Alleine diese Neugier “Wann ist das nächste Info treffen, ich möchte dabei sein.” Das ist unglaublich. Wie sie sich auch gegenseitig stärken. Das finde ich bemerkenswert. Deshalb nutzen wir auch gerne die Räume zum Austauschen, um auch zu sehen. Wie weit seid ihr denn? Was hilft euch? Oder was macht euch zu schaffen? Wo drückt der Schuh? Und manchmal kriegen die Frauen aus der Runde selber viele positive Rückmeldungen oder bestärkende ermutigende Bemerkungen oder Kommentare oder einfach noch so ermutigende Worte, die sie mitnehmen können und das stärkt sie ungemein.
Benjamin Hoven:Vielen, vielen Dank für das Interview.
Angela Mierzwa: Vielen Dank für deine Zeit.